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Über die sogenannte "bürgerliche Mitte" und unsere "Volksparteien"

Aktualisiert: 12. Feb. 2020

Das, was am 5.Februar im Thüringer Landtag in Erfurt passierte - ein FDP-Kandidat wird Ministerpräsident mithilfe der Stimmen von AfD, FDP und CDU - und das Verhalten der FDP- und CDU-Parteispitzen im Nachgang haben mindestens Empörung ausgelöst. Meine ganz persönlich Reaktion: nach anfänglichem Entsetzen kommt Bedürfnis auf, noch genauer hinzuhören, noch weiter zu hinterfragen, nicht nur ein Gefühl zu den unsäglichen Vorgängen zu haben, sondern hinter die Kulissen zu blicken. Ein Thema dabei: was spucken die PhrasenDreschmaschinen unserer Politiker so aus, was steckt dahinter und wird damit bezweckt?


Was mir schon lange Unbehagen verursacht, mich seit vergangener Woche aber wirklich aufregt: wie kann eine solch marginal wirksame und relevante Partei wie die FDP permanent auf ihrer Vertreterschaft für die "bürgerliche Mitte" pochen. Sind all die vielen, die sich nicht mit dieser "prekären" Partei anfreunden können, ergo keine im positiven Sinne "Bürgerlichen", also dem Staat zugewandte Bürger?

Um nicht bloß meinem Gefühl nachzugeben, dass sich die FDP damit quasi der Mehrheit "anbiedern" will, wollte ich mehr wissen zum Hintergrund dieses Begriffes. Nun habe ich seit ein paar Tagen viel gelesen rund um den Begriff der "bürgerlichen Mitte", habe mich damit aus politischer, soziologischer und historischer Sicht beschäftigt, bin dabei unweigerlich auch immer wieder auf die Definitionen von "Volksparteien" gestoßen.

Betrachtet man das seit 1970 der Wirklichkeit beständig angepasste Sinus-Modell der gesellschaftlichen Zielgruppen, gibt es diese beschworene mehrheitsfähige, statistisch "normal" große bürgerliche Mitte schon lange nicht mehr.

Eine Volkspartei im Sinne einer Partei, die Mehrheitsfähig ist, müsste - will sie es bleiben - schon lange sehr viel mehr Zielgruppen ansprechen als nur diese eine. Entscheidend ist aber für mich vielmehr: diese "Bürgerliche Mitte" nicht kann als Maßstab aller Dinge dienen. Zwar gilt sie als relativ kritiklos "staatstragend" und treu - was politischen Akteuren bestimmt herzlich willkommen ist. Aber dieses Milieu wird als wenig progressiv und deutlich status-quo-wahrend definiert. Der bürgerlichen Mitte wird sogar Überforderung angesichts der Fragen unserer Zeit zugeschrieben. Technologischer, soziokultureller und ökonomischer Wandel, die Vielfalt von Möglichkeiten und Lebensmodellen, Globalisierung und Migration - all das verändert nach dem Geschmack der bürgerlichen Mitte ihre Lebenswelt zu schnell, zu weit, zu umfassend.

Ja, Herrgottsakra!

Wenn das "Bedienen" dieser bürgerlichen Mitte (derzeit etwa 13% der Bevölkerung, inklusive der Gruppe der ähnlich gestrickten Pragmatiker sind es dann rd. 25%) Hauptmotivation der Politik unserer "etablierten" Parteien ist, dann dürfen wir uns nicht wundern, dass sich nichts bewegt, dass wir auf der Stelle treten, dass der Mut fehlt, auch mal zügig zu entschieden oder rechtzeitig mit Weitblick Weichen zu stellen.

Wenn Besitzstandswahrung wichtiger ist als die Bewahrung von Umwelt, als die Sorge um mehr soziale Gerechtigkeit, als global verantwortbares Handeln - ja dann wird das nix. Und zwar grundsätzlich, aber auch für die Parteien selber und unsere Demokratie. Dann haben nämlich unsere etablierten Volksvertreter jene Vielen aus den Augen verloren, die längst in den übrigen Milieus anzusiedeln sind: die Veränderer und Performer, die sozial-ökologisch Ambitionierten, die Liberal-Intellektuellen, die Experimentierfreudigen und Mutigen (zusammen etwa 30%).

Ängstlich geschielt wird von allen auf die Befindlichkeiten der Traditionalisten und der gesellschaftlich Abgehängten (zusammen etwa 20%). Dort UND in der bürgerlichen Mitte rekrutiert nämlich die AfD mit ihrem starrsinnigen Leugnen notwendiger Veränderungen ihre Wähler & Gefolgschaft, indem sie Ängste noch schürt, Verunsicherung vergrößert.

Kurzer Exkurs zu den "Gegenspielern" der Bürgerlichen Mitte: neben der Mitte sind nicht mehr, wie aus der Geschichte gewohnt, rechte und linke Extremisten anzunehmen. Parteien nach alter Gewohnheit in eines dieser Spektren einzusortieren und deshalb konsequent abzukanzeln, das wird der Situation nicht gerecht. Für mich gibt es viel wichtigeres als die Entstehungsgeschichte einer Partei, deren immanente historische Vergangenheit. Für mich verdienen die ein deutliches "NoGo", ein "Spiel nicht mir den Schmuddelkindern", die sich aktuell - programmatisch oder durch die HIntertütr- als menschenverachtend, gewaltbereit oder demokratiefeindlich präsentieren oder bei genauem Hinsehen entpuppen. Dass einer eine fragwürdige Vergangenheit hat, macht eine Zusammenarbeit nicht unbedingt leichter oder schmackhaft, aber ich muss Menschen und Gruppen doch auch zugestehen, sich zu verändern. Die Unionsparteien zum Beispiel haben sich bis vor gar nicht allzulanger Zeit auch homophob dargestellt - was ich zutiefst menschenverachtend finde; aber sie haben dazugelernt, sich bewegt und entwickelt. So sind in meinen Augen auch die LInken zu betrachten, in deren Reihen noch Mitglieder sitzen mit durchaus bedenklicher DDR-Vergangenheit - aber keiner von ihnen und auch nicht das Statut der SED-Nachfolgepartei fordert das Unrechtsregime zurück. Ganz anders bei der AfD, einer Partei, die von ihrer Entstehungsgeschichte her tatsächlich von Unzufriedenen aus der klassischen "bürgerlichen Mitte" gegründet wurde, von Euroskeptikern. Sie hat sich zu dem entwickelt, was sie heute ist, es fand dort sozusagen eine "Machtübernahme" durch Menschen statt, die sogar per Gerichtsbeschluss öffentlich "Faschist" genannt werden dürfen. Diese verfolgen ganz offenbar den Plan , unsere mittlerweile doch eher weltoffene und lebensstiltolerante Gesellschaft anzugreifen, unsere Demokratie zu unterwandern, uns nationalistisch aufzustellen. Mal geschieht dies perfide, mal offensichtlich. Im Politjargon lässt die AfD auch an ihrer Spitze durchaus Gewaltbereitschaft erkennen, unter ihren Getreuen und Wählern gehört das oft zum guten Ton. Deshalb und nur deshalb muss es Ziel sein, dass die AfD irgendwann nicht mehr mitspielt, es muss Regel sein, dass sich keiner ihrer Stimmen bedient. Gäbe es im sogenannten linken Spektrum Parteien, die sich derart präsentierten, würde dasselbe gelten. Nur: ich sehe unter den derzeitigen Akteuren in den Landtagen und im Bundestag keine solche. Gruppen außerparlamentarisch agierender linker Autonomen mit ihrer Gewaltbereitschaft und permanenten Gesetzesüberschreitungen kann man keiner der Parteien ans Bein nageln - denn sie sind tatsächlich dies: außerparlamentarisch und autonom.

Zurück zum Thema: Ich würde Parteien kategorisieren nach angemessener Adaptionsbereitschaft und mutigem Gestaltungswille angesichts der sich schnell verändernden gesellschaftlichen und globalen Bedingungen. Die klassische "bürgerliche Mitte" vereint derzeit keine Mehrheit, keine statistische Normgröße und die Flanken der Mitte - die ewig gestrigen einerseits und die Erneuerer auf der anderen Seite sind jeweils viel breiter aufgestellt als die Mitte selber. Da brauchen sich unsere Volksparteien, die sich noch immer in der historisch begründeten Abgrenzung zu linken und rechten Ideologien definieren lassen wollen, nicht über ihre Wahlergebnisse zu wundern.

Ach ja, es gibt noch zwei soziologische Milieus im Sinus-Modell, die bisher nicht erwähnt wurden: die Etablierten (10%) und die Hedonisten (15%). Erstere sind zufrieden, denn ihre Exklusivitäts‐ und Führungsansprüche sind erfüllt. Hedonisten leben NAch der Beschrebung der 2018er Sinus-Studie im Hier und Jetzt, sind unbekümmert und spontan; häufig angepasst im Beruf", brechen dafür gern in ihrer Freizeit aus den Zwängen des Alltags aus. Beide haben ihre Nischen gefunden, passen sich Veränderungen geschickt an, fordern sie aber nicht unbedingt ein.

Habt Ihr was gemerkt?

Die größte Gruppe der Bevölkerung ist tatsächlich die, die sich den Veränderungen der Wirklichkeit stellen will. Nehmen diese vielen die Pragmatischen aus der Mitte noch mit, motivieren den ein oder anderen Hedonisten, dass es mehr gibt als Alltag & Spaß, packen wir einige der Etablierten bei ihrem Sinn für Verantwortung für das Große und Ganze und ihrer Moral, machen wir denen in prekären Lebenssituationen berechtigte Hoffnungen, dass Gestaltung auch ihr Leben verbessern werden - zack, schon haben wir sie, die deutliche Mehrheit. Eine Mehrheit, die bereit ist und sogar darauf drängt, Veränderungen, die so dringend nötig sind, endlich anzupacken.

Vielleicht ist das die "neue bürgerliche Mitte", auf die die Volksparteien schielen sollten, deren Stimmen sie sich durch Mut zu wirklichen Veränderungen sichern können. Die Ängste der relativ kleinen Gruppe von Menschen, die Veränderungen grundsätzlich fürchten - der konservative Rand der Mitte, der Traditionalisten und der Menschen ohne Hoffnung in ihrer prekären Lebenssituation - sind das eine, darum muss man sich kümmern, die dürfen wir nicht ignorieren. Aber die Ängste der Vielen, die ohne Veränderungen ihre Zukunft, die Zukunft unserer Gesellschaft, die Zukunft unserer Demokratien und die der Mutter Erde bedroht sehen, die sollten weitaus ernster genommen werden und Antrieb sein.

Damit sich was bewegt!

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